Presseinformation
»Förderstipendium 2021/2022«
Mit Werken von Jens Klein und Anja Manfredi sowie Lilly Lulay, Karina Nimmerfall und Valter Ventura
27. Oktober 2022 bis 28. Januar 2023
Eine Installation mit Aufnahmen aus dem Fundus eines passionierten Hobbyfotografen, Mythen um den Titanen und Himmelsträger Atlas, ein Sammelsurium von Objekten und Bildern, die den Begriff des »Schießens« assoziativ verhandeln, Interviews mit Frauen aus dem London der 1940er Jahre, die zeitgenössischer Architekturfotografie gegenübergestellt werden, und auf Flohmärkten erstandene Fotoalben und Postkarten: Was auf den ersten Blick wenig gemein zu haben scheint, durchzieht dennoch ein roter Faden. Alle fünf Künstlerinnen und Künstler beschäftigen sich mit Archiven, Fundstücken oder Sammlungen, die sie so zusammenstellen, dass ihre eigenen künstlerischen Befragungen sichtbar werden. Sie nähern sich zugleich alle historischen Themen, die bis in unsere heutige Zeit hineinwirken.
Im Juli 2021 hatten sich die Jurymitglieder für das Förderstipendium 2021/2022 im ersten Wahlgang auf Jens Klein und Anja Manfredi als die beiden Preisträger geeinigt. Sie erhielten jeweils ein einjähriges Arbeitsstipendium zur Umsetzung eines Projektes, das nun in der Ausstellung erstmalig gezeigt wird. In einer zweiten Runde entschied sich die Jury für Lilly Lulay, Karina Nimmerfall und Valter Ventura als weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ausstellung.
Die Arbeiten der nominierten Künstlerinnen und Künstler werden ab dem 27. Oktober 2022 der Öffentlichkeit präsentiert.
Jens Klein (* 1970, Apolda) wuchs in einem thüringischen Dorf in der DDR auf und beschäftigt sich in seinen Arbeiten immer wieder mit der ostdeutschen Vergangenheit – in dieser Ausstellung mit seiner ganz persönlichen. Auf der Suche nach Fotografien von seiner Einschulung stieß der Künstler auf das riesige Konvolut aus rund 15 000 Negativen seines Nachbarn Ingo Wrzalik (1954–2013), einem leidenschaftlichen Amateurfotografen. Der fotografierte nicht nur Jens Klein als Erstklässler, sondern hielt in den Jahren 1968 bis Mitte der 1980er Jahre mit seiner Kamera einen Querschnitt dörflichen Lebens fest. Für seine Arbeit »Schlüfter. Annäherung an eine Heimat« hat Jens Klein eine Auswahl von etwa 300 Bildern getroffen, die er nach den Themen Familie, Jugend, Dorf und Arbeit sortiert. Ein Großteil besteht aus Porträts und Gruppenaufnahmen, viele Bilder zeigen die umliegende Landschaft und das Dorf, mal architektonische Details, mal pittoreske Ansichten. Dadurch erwecken die Fotos den Anschein eines Alltags, in dem Drangsalierungen und sozialistische Propaganda des DDR-Regimes keinen allzu großen Stellenwert einnehmen – und zwar sowohl in der Lebenswelt als auch in der fotografischen Bildwelt. Jens Klein macht diese das offizielle Bild unterlaufenden Zwischenräume privater Existenz im ländlichen Raum der Nachkriegszeit auf erzählerischer Ebene erfahrbar. Durch die Präsentationsform als mehrkanalige Dia-Projektion an verschiedenen Wänden und das Klackern der Projektoren unterwandert er zugleich die lineare Betrachtung und unterstreicht die Mehrdeutigkeit kollektiver und individueller Erinnerung von Geschichte.
Die Referenz der Werkschau von Anja Manfredi (* 1978, Lienz) ist die mythologische Figur des Titanen Atlas. Von ihr aus entfalten sich zwischen den Motiven der Präsentation »Atlas und Bilderatlas« sinnhafte Bezüge, die von den ersten astrologischen Kartografierungen des Himmels in Form von Globen über die Felsenlandschaft des Atlasgebirges bis hin zur Adaption der tragischen Figur des Titanen innerhalb der Geschichte architektonischer Stilmittel reichen. Durch einen mit Fotogrammen eines Steins aus dem Atlasgebirge versehenen schwarzen Vorhang betritt man das kleine Kabinett. Zwei lebensgroße Karyatiden flankieren einen Durchgang im Ausstellungsraum. Betrachtet man die Zusammenstellung länger, drängt sich die Gestik des Lasten-Tragens auf: Skulpturen vorwiegend weiblicher Körper, die das Gebälk von Balkonen, Erkern oder Portalen stützen, kleine Bronzetafeln Lasten tragender Männer und figürliche (Bau-)Elemente, die immer wieder den Titanen Atlas zeigen, wie er auf seinem Rücken das Himmelsgewölbe stemmt. Die labyrinthischen Motivkonstellationen sind zugleich eine begehbare Hommage der Künstlerin an den »Bilderatlas Mnemosyne« von Aby Warburg. Anja Manfredi stellt ihr eigenes Archiv her, in dem die Präsenz der antiken Erzählung bis in die Gegenwart hinein räumlich erfahrbar wird. Einer nicht auf Vollständigkeit angelegten, sondern kombinierenden Bestandsaufnahme gleich bietet sie uns einen interdisziplinären Kosmos an, dessen Aneignung und Auswertung jede Betrachterin und jeder Betrachter selbst vornehmen muss.
Ähnlich wie Anja Manfredi untersucht auch Valter Ventura (* 1979, Lissabon) in seiner Werkserie »Compendium of Photographic Observations – and Other Annotations about Things that Seem to Be but Are Not« den Umgang mit Sinnbildern und Begriffsfeldern – und zwar hier die Analogien zwischen fotografischem und waffenspezifischem Vokabular. Dafür bedient er sich eines Sammelsuriums an Fundstücken, Montagen und Videos, in denen er das Schießen eines Fotos mit der Betätigung einer Schusswaffe gleichsetzt. Auf die Parallelisierung von Kamera und Waffe stößt man seit der Entdeckung der Möglichkeit, Lichtbilder zu fixieren; sie findet ihre Zuspitzung in der Annahme vom ›Raub der Seele‹ durch das fotografische Abbild. Mit seinen humoristischen Adaptionen führt Valter Ventura uns die weitverbreitete Verharmlosung von waffentechnischen, aber auch fotografischen Praktiken vor Augen. Die Gewalt und das Potenzial an Verletzungen, die die Waffe und analog der Fotoapparat und die der Fotografie innewohnenden Machtstrukturen hinterlassen, werden dabei eher indirekt formuliert.
Karina Nimmerfall (* 1971, Deggendorf) geht in ihrer Arbeit »Indirect Interviews with Women« der Frage nach der dokumentarischen Funktion fotografischer Bilder nach. Ausgangspunkt für ihre Foto-Text-Installation sind historische Interviews mit Frauen, die das Wohnen im London der 1940er Jahre untersuchen. Karina Nimmerfall nähert sich diesen historischen Dokumenten auf verschiedenen Ebenen. Sie transkribiert die O-Töne und macht diesen Prozess der Übertragung als »Storyline« in Form sichtbarer Kommentare nachvollziehbar. Außerdem begibt sie sich mit ihrer Kamera an jene Orte, an denen einst die Interviews geführt wurden. Durch den künstlerischen Blickwechsel treten zahlreiche Diskontinuitäten hervor, die die Praktiken soziologischer Feldforschung und den Status der Fotografie als vermeintliche »Königsdisziplin des Dokumentierens« gleichermaßen ins Wanken bringen.
Lilly Lulay (* 1985, Frankfurt am Main) kombiniert in ihren Arbeiten »The Bodies’ Photographic Afterlifes« und »Salutations au Service du Matérial Volant, CL« analoge Fundstücke mit Attributen und Kennzeichen digitaler Kommunikationsformen. Damit wirft sie einen kritischen Blick auf die Verwendung moderner fotografischer Systeme wie das Smartphone, die eine Entwertung des Einzelbildes nach sich zu ziehen scheint. Zugleich haben sich die sozialen Gebrauchsweisen von Fotografie kaum verändert. Lilly Lulay entwirft mit ihren Collagen eine Gemengelage, in der das digitale Icon und der fotografische Index vereinheitlicht werden, und lädt zu Überlegungen über gegenwärtige und historische Praktiken des Teilens von Bildern ein.
Die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung sind Spurensuchende innerhalb der Geschichte und ihrer eigenen Biografien. Den Blick auf vorhandenes Material gerichtet, untersuchen sie Bezüge von Vergangenheit und Gegenwart im Rahmen des fotografischen Mediums und seiner Anwendungsbereiche. Bildarchive und andere Dokumentensammlungen entpuppen sich dabei als adäquates Medium, Geschichte(n) neu zu erzählen.
Die im Rahmen des Projektstipendiums erarbeiteten Werke von Jens Klein und Anja Manfredi werden für die DZ BANK Kunstsammlung erworben; ebenso die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten von Lilly Lulay und Valter Ventura. Von Karina Nimmerfall wird eine Werkserie angekauft, die sich aktuell noch in der Produktion befindet.
Zur Ausstellung erscheint eine Publikation.
»Förderstipendium 2021/2022«
27. Oktober 2022 bis 28. Januar 2023
Kunststiftung DZ BANK
Presseführung: Dienstag, 25. Oktober 2022, 11 Uhr
mit Dr. Christina Leber, Künstlerische Leitung und Geschäftsführerin der Kunststiftung DZ BANK sowie den Künstlerinnen und Künstlern der Ausstellung
Eröffnung: Mittwoch, 26. Oktober 2022, 19 Uhr
Begrüßung: Thomas Ullrich, Vorstandsmitglied der DZ BANK AG, Vorsitzender des Beirats der Kunststiftung DZ BANK
Einführung: Dr. Christina Leber, Künstlerische Leitung und Geschäftsführerin der Kunststiftung DZ BANK
Ansprechpartnerin:
Imke Koch
Pressereferentin der Kunststiftung DZ BANK
T +49 69 7680588 12
Mail: presse@kunststiftungdzbank.de