Philipp Goldbach
Mit den Arbeiten von Philipp Goldbach ändert sich die Perspektive auf das Fotografische. Er ist ein Sammler, der eine produktive Medienarchäologie obsolet gewordener Bilderspeicher betreibt. In seiner Arbeit tritt er im übertragenen Sinne vor dem Motiv einen Schritt zurück, nimmt das Trägermaterial in Augenschein und stellt durch eine Verschiebung der Wahrnehmung dessen Charakteristik heraus. Die ersten Speicher, die er vor ihrer unwiederbringlichen Entsorgung bewahrte, waren 2013 die 200 000 Dias des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln und ein paar Jahre später die 70 000 Dias des Instituts für Archäologische Wissenschaften der Ruhr-Universität Bochum. Aus diesen entwickelte der Künstler die Werkgruppe »Lossless Compression«. Mit dem Titel benennt er eine verlustfreie Verdichtung und provoziert damit die Frage, was genau dieser Installationsform voranging und nun komprimiert wurde.
Nachdem Philipp Goldbach die Dias des Kunsthistorischen Instituts bekommen hatte, kippte er die nach Bildautoren wohlsortierte Sammlung bei der ersten Präsentation auf den Boden eines Ausstellungsraums und nannte diese Werkform »Sturm/Iconoclasm«. Wie kleine Eisschollen lagen die Dias und damit rund 2000 Jahre Kunstgeschichte gleichmäßig verstreut im Raum. Die einzelnen Bildermotive und Beschriftungen waren noch sichtbar, ein geordneter Zugriff jedoch unmöglich geworden. Was seit Mitte des 20. Jahrhunderts der Anschauung von abwesenden Forschungsgegenständen diente, war nun seines wissenschaftlichen Gebrauchs entledigt. In einer neuen, der finalen Präsentationsform liegen die Dias sorgfältig gestapelt über- und nebeneinander. In der Kunststiftung DZ BANK ist es die Sammlung des Instituts für Archäologische Wissenschaft der Universität Bochum, in der sich Reproduktionen von Bauwerken der ganzen Welt befinden. Die Motive verschwinden in der nun hermetisch gewordenen Präsentationsform. Als wandfüllende Installation pendelt die Arbeit in ihrer Erscheinung zwischen einer riesigen Festplatte, weißem Rauschen und abstrakter Kunst.
Die Arbeit »Batch« besteht aus dicht aufeinandergelegten 35-mm-Negativstreifen in Schwarz-Weiß, die für analoge Kleinbildkameras verwendet werden. In einem der 19 x 19 Zentimeter großen Blöcke befinden sich 1400 Filmstreifen à fünf Aufnahmen, insgesamt 7000 Fotografien, die von Gewindestangen zusammengehalten werden. In der komprimierten Form als Block treten die für uns nebensächlichen Eigenschaften der Negative hervor. Für einen reibungslosen technischen Verlauf sind sie jedoch entscheidend: Die Negativperforierung ermöglicht einen gleichmäßigen Filmtransport in der Kamera. Die Labor-Kerben positionieren das Negativ während der Ausbelichtung und dem Schnitt in der jeweiligen Vorrichtung. Die Bildstege, Bildnummerierungen und -markierungen dienen zur Unterscheidung der Einzelbilder auf den gräulich-transparenten Polyester- oder Acetatnegativen.
Philipp Goldbachs Arbeiten erschöpfen sich weder in einem nostalgischen Abgesang noch in einer Ästhetisierung des Materials. Die Installationen sind vielmehr Meditationen über sich verändernde fotografische Techniken. Diese Wahrnehmungsverschiebung weg vom Motiv hin zu den Bilderspeichern gelingt, weil diese ihrer Funktion des Zeigens von Bildern enthoben sind. Zugleich entstehen in Philipp Goldbachs Installationen neue visuelle Zusammenhänge. In »Lossless Compression« und »Batch« sind die Einzelbilder noch verfügbar und könnten »ausgelesen« werden. Sie sind aber ähnlich unsichtbar abgelegt wie Daten in Computerservern. Sichtbar wird hingegen, wie viel Raum der Speicher in Anspruch nimmt, und auch die Umstände des Managements, Handlings und der Strukturierung der Bildermengen werden vorstellbar. Einerseits lässt sich erahnen, wie begrenzt die Möglichkeiten zur Sortierung des analogen Materials im Vergleich zu den Vernetzungsmöglichkeiten digitaler Bilder sind. Andererseits ist durch die physische Präsenz der Bilderspeicher das visuelle Erfassen des gesamten Materials möglich. Wir können uns zu diesem noch ins Verhältnis setzen, während im virtuellen Raum kein räumlicher und körperlicher Bezug mehr denkbar ist.
Mit seinen »Mikrogrammen« geht Philipp Goldbach einen umgekehrten Weg. Er entledigt die Inhalte von Texten aus Philosophie und Fototheorie sowie von Reiseberichten aus dem 19. und 20. Jahrhundert der Buchseiten als Träger und vereint sie auf jeweils einem Bogen Papier. Nachdem er auf Grundlage der Textlänge die Größe des Textfelds berechnet hat, schreibt er über mehrere Wochen die vollständigen Texte Wort für Wort und Zeile für Zeile mit Bleistift ab. Die einzelnen Buchstaben sind nur wenige Millimeter groß und in gleichmäßiger Dichte niedergeschrieben. Mit dieser Arbeit stellt sich Philipp Goldbach in die lange Tradition der reflexiven Beschäftigung mit Schrift: der als Mikrografie bezeichneten Schriftmalerei des 18. Jahrhunderts eines Johann Michael Püchler d. J., der im Verborgenen entstandenen und posthum als »Mikrogramme« bezeichneten Schreibexperimente Robert Walsers, der »écriture automatique« der Surrealisten um André Breton der 1920er Jahre bis hin zu konzeptuellen Ansätzen der 1970er Jahre eines Robert Morris oder Allen Ruppersberg. Das Abschreiben der Texte ist bei Philipp Goldbach eine Aneignung von Texten, die einer visuellen Befragung gleicht: Was passiert mit einem Text, wenn er als Bild erscheint? Wenn er nur punktuell lesbar, dafür aber visuell erfahrbar wird? Wenn sich im Schriftbild Schwankungen abzeichnen, die die Zeit, die Anstrengung und den Gemütszustand des Künstlers beim Schreiben widerspiegeln?
Die ausgewählten Texte gehen jeweils eine vielschichtige Symbiose mit ihrer neuen Form ein. In Frankfurt ist das Mikrogramm von Vilém Flussers Werk »Ins Universum der technischen Bilder« zu sehen. In seinem visionären Text von 1985 nimmt Flusser nicht nur vieles von der heutigen Entwicklung der Fotografie vorweg. Seine Beobachtungen zum Ersatz von Texten durch Bilder ähneln auch einer Rezeptionserfahrung, die wir vor Philipp Goldbachs »Mikrogrammen« machen können: »Wenn Texte von Bildern verdrängt werden, dann erleben, erkennen und werten wir die Welt und uns selbst anders: nicht mehr eindimensional, linear, prozessual, historisch, sondern zweidimensional, als Fläche, als Kontext, als Szene. Und wir handeln auch anders als vorher: nicht mehr dramatisch, sondern in Beziehungsfelder eingebettet.« (Vilém Flusser)
Philipp Goldbach wurde 1978 in Köln geboren, wo er heute lebt und arbeitet.