Erde
Caroline Dlugos, Carsten Höller, Loredana Nemes
Die Künstlerinnen und Künstler dieser Ausstellung beschäftigen sich mit der ausschnitthaften Wahrnehmung der Landschaft, der Natur und der Erde. Jede der hier gezeigten künstlerischen Positionen wirft einen anderen Blick auf die uns umgebende, oft als selbstverständlich wahrgenommene Umwelt. Die ungewohnten, teils irritierenden Perspektiven, die durch die Kunstwerke formuliert werden, schärfen unser Sehen für das scheinbar Banale und Beiläufige.
Der Titel der Werkreihe »Imaginäre Skulpturen« von Caroline Dlugos erscheint zunächst paradox: Zum einen haben wir Fotografien vor uns und keine dreidimensionalen Objekte, zum anderen hat die Künstlerin Formen gefunden, die wir sehen und somit nicht imaginieren müssen. Dennoch sind die fließenden, amorphen Formen, die den Vordergrund der Bilder für sich beanspruchen, schwer zu (be-)greifen. Diese Formen wirken fast wie Fremdkörper. Die fluiden Formgebilde setzen sich nahezu skulptural ab und thematisieren gleichzeitig die grundsätzliche Ausschnitthaftigkeit von fotografischen Aufnahmen. Zudem werden das fotografische Material als Träger der Information sowie der handwerkliche Aspekt der Fotografie durch Pinselspuren hervorgehoben, die beim Auftragen des Entwicklers in der Dunkelkammer entstanden sind. Als Ausgangsmaterial dienen Aufnahmen, die aus »banalen Urlaubsfotos« bestehen. Diese wurden von der Künstlerin unter anderem an der Côte d’Azur, in Davos oder in der Toskana geschossen.
Durch die auf den Passepartouts angebrachten Titel und Textausschnitte fügt die Künstlerin den Werken eine weitere inhaltliche Ebene hinzu. Es handelt sich dabei um Ausschnitte aus Homers »Odyssee«, in denen die Natur und Naturphänomene als »mystische Urgewalt, als personifizierte, launenhafte Bedrohung oder Rettung« charakterisiert werden. »Damit gerät die künstlerische Arbeit über die reine Landschaftsportraitierung hinaus zum Symbolträger der aktuellen Naturerfahrung: diese ist für den Menschen zum aktuellen Handlungsspielraum, zum Ort der Manipulation geworden.«
Carsten Höller benutzt die Landschaft als Ausgangspunkt, um über Phänomene menschlicher Wahrnehmung nachzudenken. Der studierte Agrarwissenschaftler, der sich in der Phytopathologie – der Lehre von den Pflanzenkrankheiten – habilitiert hat, befasst sich mit naturwissenschaftlichen Fragen aus dem Feld der Kunst heraus und vice versa. Die 12-teilige Arbeit »Mushroom«, 2004 bildet nur einen Ausschnitt seiner umfassenden Recherche nach dem mythischen Getränk »Soma«, das im Rigveda, der ältesten der vier Gründungsschriften des Hinduismus aus dem zweiten Jahrtausend v. Chr., beschrieben wird. Darin heißt es: »Wir haben das Soma getrunken; wir sind unsterblich geworden, wir haben das Licht gesehen; wir haben die Götter gefunden.« Der Amerikaner Robert Gordon Wasson, der über die halluzinogene Wirkung von Pilzen forschte, fand heraus, dass es sich bei der Grundsubstanz des Somas um Fliegenpilze handeln könnte.
Der Kontrollverlust, der sich bei der Einnahme von Drogen auch über das Sehen artikuliert, wird bei Carsten Höller durch eine stereoskopische Aufnahmetechnik aufgegriffen: das Anaglyphen-Verfahren, welches zum Erzeugen einer Tiefenwirkung auf zweidimensionalen Abbildungen eingesetzt wird. Dabei wird ein Motiv aus zwei unterschiedlichen Winkeln – dem Abstand der menschlichen Augen entsprechend – aufgenommen; anschließend werden die Teilbilder in Komplementärfarben eingefärbt und zu einem Bild übereinandergelegt. Ohne 3D-Brille erfasst uns beim Betrachten der Bilder eine Art Schwindelgefühl, was an die Visualisierungen von Rauschzuständen denken lässt. Unter Zuhilfenahme der Brille eröffnet sich dem Betrachter dagegen eine ›verborgene‹ räumliche Dimension im Sinne einer optischen Illusion.
»Graubaum und Himmelmeer«, 2019–2021 ist die erste Bildreihe von Loredana Nemes, in der sie sich anderen als menschlichen Lebewesen zuwendet. Das hatte auch etwas mit den Coronajahren zu tun, in denen nicht wenige von uns die Nähe der Wälder suchten. Dabei verwendet die Künstlerin auch für diese Serie wieder ihre Plattenkamera mit Stativ. Sie lässt sich Zeit bei der Entscheidung für ihre Motive. Daraus ergeben sich erstaunliche Bilder von Baumformationen, die man als Gruppenporträts bezeichnen möchte. Sie porträtiert die Bäume der Wälder von Rügen zu allen vier Jahreszeiten.
Auf die ihr eigene Weise setzt sie die Bäume als lebendige Organismen ins Bild, mit denen der Mensch zusammenlebt, ja die ihm wohltun, wenn er den Wald mit offenen Augen durchschreitet. »Das Atmen fällt leichter in Sassnitz. Ein schnelleres Licht dort und die Blätter im Mai wie Schmetterlinge auf den feinen Zweigen. Der Boden um die Buchen ist näher und Fliehen nicht nötig. Die Muskeln entspannen. Graue Bäume, die mich kennen, denn vom Karpatenrücken komme ich, aus zurückgelassenem Buchenland. In Sassnitz noch ein Meer am Waldesrand. Es kann nicht nach mir schnappen. Es wirft das Licht zurück und kennt alle Grau. Dann stehen wir an diesem Rand mit Armen und Zweigen und Wurzeln, die einander fassen und nähren und nichts tut mehr weh« , schreibt Loredana Nemes über ihre Erfahrung mit den Buchen auf Rügen.
Caroline Dlugos wurde 1959 in Berlin geboren. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
Carsten Höller wurde 1961 in Brüssel, Belgien geboren. Er lebt und arbeitet in Stockholm, Schweden.
Loredana Nemes wurde 1972 in Sibiu (Hermannstadt), Rumänien geboren. Sie lebt und arbeitet in Berlin.